Das Corona-Virus wirkt wie ein Beschleuniger, der eigentlich längst bekannte Schwachstellen offenlegt. Die Kaufhaus-Schließungswelle setzt den stationären Handel und die Innenstädte unter Stress. Das Verbot von Großveranstaltungen, die Auflagen für Clubs, Großveranstaltungen, Gastronomie und viele Kulturinstitutionen bremsen Unterhaltung und Kulturgenuss aus.
In den Krisen, die wir kennen, flüchteten sich die Menschen in die Kultur, kamen auf andere und auf neue Gedanken. Auslandsreisen sind schwierig geworden und so verbringen Millionen von Menschen, die auf Mikroreisen kaum vorbereitet sind, den Sommer in ihrer Heimatregion. Tagesbesucher überrennen die geschrumpften Kapazitäten. Und nicht nur das ‚Wegebier‘ erobert den öffentlichen Raum. Vor allem den Jungen ist langweilig in einer dümpelnden Krisensituation voller Ungereimtheiten. Konflikte entzünden sich aus geringsten Anlässen. Trauer und Wut brechen sich Bahn und lassen Situationen eskalieren. Die Ordnungskräfte müssen den Rücken hinhalten. Ob man die Konflikte nun groß redet oder klein, sie stehen auf der Tagesordnung und lassen sich kaum verdrängen.
Wer den viel beschworenen Zusammenhalt fördern will, muss Verantwortung übernehmen. Es braucht neue Begegnungsformen und Veranstaltungsformate, die den Bedürfnissen der unterschiedlichen Zielgruppen gerecht werden und die aufgestaute Energie ins Positive wenden. In einer solchen Situation können sich öffentliche Verwaltungen nicht auf die Rolle von ebenfalls betroffenen Dienstleistern zurückziehen sondern sie stehen in der Pflicht, im Sinne des Gemeinwohls zu agieren. Corona ist mehr als eine Zumutung, es ist der Ernstfall, in dem sich zeigen muss, was unser Gemeinwesen wert ist. Da steht viel Vertrauen auf dem Spiel.
Zugleich sind in Deutschland Hunderttausende von Kreativen und Künstlern ohne Beschäftigung. Sie allein als Fälle der Fürsorge zu behandeln, zeugt von mangelndem Respekt und lässt die wichtigsten Kapazitäten zur Krisenbewältigung ungenutzt: Kreativität, Improvisation und Innovation. Sie könnten im Auftrag der Kommunalverwaltungen Projekte entwickeln, die der Krise ihren zerstörerischen Charakter nehmen.
In meinem Aufruf ‚Öffnet die Museen‘ hatte ich vorgeschlagen, dass die Museen Aufträge zu ihrer Digitalisierung vergeben oder sich als Orte neu erfinden, an denen Künstler tätig werden. Für öffentliche Plätze hat westermann kommunikation den ‚Corona Times Square‘ konzipiert, der den Nöten und Ängsten, der Trauer und der Wut ein Forum gibt, das zum Gespräch und nicht nur zu moralischen Vorwürfen und sinnlosen Konfrontationen ermuntert. Wir brauchen eine andere Zuhör- und Gesprächskultur.
In der letzten Woche wurden von der Veranstaltungsbranche rund 9000 Gebäude in rotes Alarmlicht getaucht. Diese bundesweite Aktion zeigt die Potenz, die im Augenblick brachliegt, obwohl sie dringend nötig wäre, um die Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft in konstruktive Bahnen zu lenken. Die Stuttgarter Krawallnacht zeigt deutlich, dass bei uns Einiges im Argen liegt auch jenseits von Corona. Jugendkrawalle waren auch in der Vergangenheit immer Reaktionen auf eine Stadtpolitik, der es nicht gelingt, Vielfalt, Freiräume, Nischen und Nutzungsmischungen zu verteidigen. Die unsichtbare Hand des Marktes führt systematisch dazu, dass sich nicht unbedingt das Richtige sondern nur ökonomisch Erfolgreiches durchsetzt bis es in seiner Gleichartigkeit und Konformität die Nachfrage selbst zusammenbrechen lässt. Der reine Markt scheitert auf Dauer an seinem eigenen Erfolg. An einem solchen Punkt stehen vielleicht viele Innenstädte jetzt, die zu lange auf dem ‚Einkaufen‘ als einzig wünschenswerter Verhaltensform festgehalten haben. Auch hier ist die Stunde der Kultur gekommen sich einzumischen und Vielfalt wiederherzustellen. Es ist letztlich auch gut für das Wiederankurbeln des Geschäftes und für die Antwort auf die Frage aller Fragen, wovon wir leben wollen.
Immobilieninvestitionen könnten im wohl verstandenen eigenen Interesse überdacht werden, um zukunftsfähiger zu werden. Auch dazu haben wir einen Vorschlag gemacht, das renovierungsbedürftige Gutenberg-Museum in Mainz, an einen benachbarten Karstadt-Standort zu verlegen. Das sind nur Beispiele, um Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen und nicht zum Opfer zu werden.
Die Kulturinstitutionen mit den größten Budgets mussten sich in der Konkurrenz untereinander immer stärker spezialisieren und Höchstleistungen vollbringen, um den immensen Aufwand zu legitimieren in Quoten, in Aufmerksamkeit in der Presse oder bei Sponsoren. Das hat zu einem Institutionen-Egoismus geführt, der die Symbiose mit der umgebenden Gesellschaft zu wenig im Blick hat. Das Coronavirus verändert jetzt die Erfolgskriterien. Es rückt viel stärker den Kulturgenuss der Einzelnen ins Zentrum, die Notwendigkeit neue, taugliche Orte zu erschließen und neue Verbindungen zu anderen städtischen Playern zu suchen. Aus diesen Kooperationen können neue Impulse entstehen, die zu einem anderen Selbstverständnis von Leistungsfähigkeit und Erfolg führen.
Das Coronavirus ist eben kein verflixter Albtraum, aus dem wir aufwachen und dann ist alles wie vorher. Es sind gewaltige Veränderungen im Gange, die zu neuen Konzentrationen führen, Marktmächte fundamental verändern und neue Monopole bilden können. Diese Veränderungen treffen zuerst die Ärmeren, sie werden aber auch nicht Halt machen vor denen, die sich heute noch auf der sicheren Seite wähnen.
Der amerikanische Anthropologe Jared Diamond hat dazu geforscht, warum in der Geschichte der Menschheit manche Gesellschaften überlebten und andere untergingen. Die verallgemeinerbare Hauptursache des Niedergangs war die mangelnde Lernfähigkeit der Menschen. Ob das für unsere überalterte und ermüdete Gesellschaft eine gute oder schlechte Nachricht ist, überlasse ich Ihnen…
Beste Grüße für die Sommerferien
Helmut Maternus Bien