Wir sind Spätberufene und erst in den letzten Wochen spontan zu Spaziergängern durchs Dorf geworden. Um gesund zu bleiben im #Shutdown. Als Spaziergänger auf dem Lande sind wir sozial auffällig geworden, so wenige sind unterwegs. Fast alle, denen wir begegnen, grüßen in komplizenhaftem Einverständnis. In Paris sind sie da weiter. Dort ist Ausgleichssport nur noch nachts erlaubt. Dabei wollen wir doch nur das eine: Gesund bleiben, die Krise abwettern, das Immunsystem stärken.
Anders als in der Stadt erledigen wir Landeier in der Regel fast alles mit dem Auto. Auf dem Lande ist kaum noch was fußläufig zu erreichen. Die Funktionen sind entmischt. Hier das Gewerbegebiet, da die Felder und dort die Einfamilienhäuser. Sortenrein sortiert. Die Umgebung ist schon deshalb übersichtlich und Attraktionen unauffällig. Bis zu dem Augenblick als wir vor zwei Wochen mit dem Gehen angefangen haben. Das gemächliche Tempo und die Unabhängigkeit vom Fahrzeug ändern den Blick. Wir schauen uns wieder um und richten uns nicht länger nur auf die Fahrtrichtung aus. Ist das schon dieses ‚Entschleunigen’, von dem jetzt die Rede ist?
Wenn Siedlungen für die Menschen gemacht wären, müssten sie auch einen menschlichen Maßstab haben. Dann wäre ‚Begehen’ so was wie Begreifen mit den Füßen. Entfernungen, Strecken, Blicke, Perspektiven und Horizonte beziehen sich auf den menschlichen Körper, trotz aller Digitalpropaganda für die Aufhebung von Raum und Zeit. Selbst Le Corbusier wusste das noch. Wir haben jetzt wieder mehr Lust auf diesen mikrokosmischen Nahkontakt. Liebe, was du nicht ändern kannst, sagen Chinesen dazu.
Das ‚Social Distancing’ fördert die Sehnsucht nach Nähe, die Vertrautheit mit Sicherheit verbindet. Wir wollen immer das was gerade knapp wird. Das Bekannte und Analoge ist noch da, wenn der Akku längst leer oder der Stecker aus der Dose gezogen ist. Das Digitale stimuliert geradezu die Lust auf Analoges, bei dem die Matt-Wischscheibe nicht zum Brett vor dem Kopf geworden ist. Dialektik des Alltags.
‚Im Gehen verstehen’ hieß ein Go-In von Bazon Brock, das er mit meinem Freund Uli Giersch in Berlin veranstaltet hat. Rund um die Halbruine des Gropius-Baus (1981) ‚ergingen’ wir uns diese verdrängte Topographie samt ihrer barbarischen Geschichte. Sich auf den Weg machen und sich umschauen so als ob man zum ersten Mal unterwegs wäre, das ist das zugegeben romantische Verfahren der Flaneure. Natürlich sieht man das besser, was man kennt. Deshalb sind Wiederholungen ja so wichtig in der Geh-Schule des Sehens. Flaneure und Flaneusen streiften durch die Stadt, schauten in alle Ecken und machten sich mit ihren fremden Blicken bei Hausmeistern, Zuhältern und Blockwarten schon damals verdächtig.
Es ist nur wenige Monate her, dass dem Flanieren eine eigene Ausstellung im Bonner Kunstmuseum zugedacht war. Und auch die Zeitschrift Kunstforum widmet dem Gehen als künstlerischer Praxis einen ganzen Band. Besonders lesenswert ist das gerade übersetzte Essaybuch ‚Wanderlust’ der Amerikanerin Rebecca Solnit, die das Gehen in allen Dimensionen abschreitet. Gehen, Denken und Lernen bei den Peripatetikern in Griechenland, die Geburt der Poetik und Musik aus dem Rhythmus des Schreitens, die Grand-Tour-isten und Handwerker auf der Walz bis hin zu den Frauen, die sich auf eigensinnige Wege machten, oder die Bürgerrechtler und Ostermarschierer gegen Starrsinn oder Mobilmachung. Bewegung liegt in der Luft mitten im vermeintlichen Stillstand, in dem sich die Welt in rasender Geschwindigkeit neu sortiert.
Besonders Lucius Burckhardt ist ein Vorgänger für unser Ausschweifen in die Nachbarschaft. Der Schweizer Urbanist hat mit seinen Stadtplaner-Studenten zu Fuß Planungsgebiete erwandert, fotografiert, Blickachsen und Horizonte erforscht, gestalterische Details und Charakteristika festgehalten, Trampelpfade dokumentiert und den Bewohnern auf ihre Füße geschaut. Das Verfahren nannte er beiläufig unernst Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie. Planer sollten vom Reißbrett weg und sich dem Tabula rasa-Denken der Moderne entfremden, das menschenkörperliche Maß sollte zurück in die Planung gebracht werden. Strollology nennt sich das Verfahren lautmalerisch auf Englisch. Man hört es schon klingen, wie StrollologInnen im Gelände so herumstrolchen.