Menü Schließen

Mehr Licht in Goethes Schatten

Das Deutsche Romantikmuseum – Ein Reflektorium –

Von Goethe stammt der Satz, die Romantik sei das Kranke. Für die Romantik gleich neben dem Goethehaus ein ganzes Museum einzurichten, für diese Idee hat Anne Bohnenkamp, die Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts, lange kämpfen müssen. Obendrein ist es das erste und einzige weltweit. Die sonst so museumsaffine Stadt Frankfurt ging zwischendurch in Reserve und auf Distanz. Jetzt hat Bohnenkamp es geschafft. Die Ausstellung ist fertig, und öffnet mitten in der Pandemie. Ein denkwürdiger Zeitpunkt und ganz passend, lässt sich doch die Romantik selbst als Krisensymptom lesen.

Um es gleich zu sagen: Das Museum ist großartig geworden, kein bisschen blaustrümpfig wie es das Klischee vom betulichen Literaturmuseum will sondern brandaktuell, interaktiv und mutig gen Horizont ausschreitend. Festes Schuhwerk braucht diese Wanderung über Himmelsleitern und auf den Wipfel-Pfaden der europäischen Ideengeschichte zwischen Französischer Revolution, Mainzer Republik, Napoleon, den Jahren ohne Sommer, Hungersnöten und gerodeten Wäldern. ‚Krise‘ wird damals zum Motor der Moderne. Das Leben wird nach vorne gelebt und nach rückwärts begriffen.

Aktuell mehren sich wieder die Stimmen, die den Romantikern die Schuld geben: diesmal an der niedrigen Impfquote in den deutschsprachigen Ländern. Ein Spiegel-Redakteur setzte die Vermutung auf Twitter in die Welt. Die NZZ hat in einen langen Bericht darauf zu antworten versucht. Die Suche nach Schuldigen statt nach Lösungen funktioniert immer noch erschreckend zuverlässig in deutschen Landen. Wer Visionen hat, sollte Arzt oder Apotheker aufsuchen. Aber woher kommen dann die verqueren Ideen, auf die unser Wohlstand gebaut ist? Das Neue ist oft erstmal das Ver-rückte. Und das Erkennen und Sehen verschwistert sich mit dem Sehnen, wenn etwas Großes wie beispielsweise ein Aufbruch gelingen soll.

Anne Bohnenkamps Idee ist genial. Weil sie ganz von Goethe her kommt. Als vergleichende Literaturwissenschaftlerin kennt sie das Goethe-Verständnis ihrer zahlreichen europäischen und überseeischen Gäste, die in normalen Zeiten so zahlreich und zuverlässig ins Goethehaus pilgern. Sie nehmen Goethe als Zeitgenossen, Anstifter und Counterpart der Romantik wahr und nicht als solitären Felsen der Vernunft in einem Meer aus aufgewühlter Unvernunft.

Das Deutsche Romantikmuseum bildet in einem ganz wörtlichen Sinne einen Resonanzkasten für das Goethehaus und erlöst zugleich die Goethe-Rezeption bei uns von den eingeübten Hohlwegen. Johann Wolfgang Goethe bekommt jetzt den Echoraum, den es braucht, damit er nicht als Säulenheiliger in der Klassik des Guten, Wahren und Schönen erstarrt. Schon weil das, was als gut, schön und auch wahr gilt, oft Verhandlungssache ist.

Die Romantik ist keine rein deutsche Affäre. Aus europäischer Perspektive gehört Goethe dazu. Als erste internationale Kunst-Avantgarde der Moderne setzen sich ihre Protagonisten über die Grenzen auch zwischen den Sparten hinweg und verbinden im Namen der Poesie die bildenden und darstellenden Künste, die Musik, die Architektur und beziehen sogar die Wissenschaft mit ein. Phantasie an die Macht! Kunst und Leben sollen verschmelzen auf der Suche nach den Ursprüngen und nach der universalen Weltformel. Am Anfang romantischen Denkens und Sehnens steht das umarmende Präfix: Syn. Von Symbiose bis Sinfonie. Das Re- kommt erst später.

In Frankfurt ist ein ideengeschichtliches Kraftwerk ans Netz gegangen, das in Weltoffenheit und Funkenflug zwischen Geist und Geld, Selbstwirksamkeit und Eigensinn einen Spannungsbogen erzeugen kann. Allmählich stellt sich auch in der Pandemiebekämpfung heraus, wie sehr es auf jeden Einzelnen ankommt. Die überkommenen Industriementalitäten der Uniformität, Ansage von oben und homogenen Gleichschaltung sind ins Stottern geraten. Um 1800 war das nicht viel anders. Die feudalen Selbstverständlichkeiten gerieten ins Trudeln und ein Novalis fragte zart nach den Qualifikationen eines Königs während in Frankreich die Guillotine den Gottesbeweis versuchte.

Die Romantiker entdeckten auf Goethes Spuren und mit Fichtes Ich-Philosophie im Rucksack das einzigartige Subjekt in seinen Fähigkeiten, selbst Empfindungen zu haben und den eigenen Kopf zu gebrauchen. Goethe betrieb diese neue Seelust mit seiner poetischen Botanisiertrommel und erklärte das Auge zum Zentralorgan. Wahr konnte nur sein, was man selbst gesehen hatte. Den Frauen hat diese sinnliche Erkenntnis von Anfang gefallen und sie haben kräftig mitgemischt. Mit den großen Salonièren Rahel Varnhagen oder Caroline Schlegel entwickeln sich Treffpunkte der neuen Schwarmintelligenz und Veranstaltungsformate, die bis heute im Stillen netzwerken. In Frankfurt am Main weiß jeder um diese informellen Einflüsse, von denen auch das Deutsche Romantikmuseum profitiert hat.

Die Szenographie der Ausstellung besorgten die Regisseurin Susanne Kessler und die Architektin Petra Eichler mit ihrem Frankfurter Büro ‚Sounds of Silence‘. So ist das Museum auch geworden. Voll leiser Anspielungen, verrätselter Ideen und Überraschungen für helle Köpfe, dabei nicht manieriert oder distinktionsversessen sondern im eigentlichen Sinne sophisticated. Der Ausstellungsparcours bietet Kennern so viel wie den Greenhorns auf verschiedenen Spuren und Vertiefungsebenen. Für die Jüngeren gibt es reichlich zum Daddeln, Drücken und Wischen, immer angemessen und eingebunden in einen poetisch sinnstiftenden Kontext und von brillanter Qualität wie die Projektionen von Stefan Matlik, die Medientische von Meso oder die Scherenschnitte von Henrik Schrat.

‚Kontext‘ ist eines der Zauberwörter dieses Projektes: Verbindungen herstellen, Beziehungen begreifen, Dynamiken verstehen, die Fakten mittels Fiktionen begreifbar machen. Neudeutsch: Storytelling, bildgebende Verfahren und Involvement all überall. Im Romantikmuseum wird eingelöst, was woanders oft genug nur Marketingsprech und Partizipations-Kitsch bleibt.

Die Basis der Ausstellung bilden Dokumente und Briefe, Notenblätter, Skizzen und Illustrationen. Das Freie Deutsche Hochstift zeigt nur die Spitze seines Archiv-Eisberges. Und: Achtung! Eigentlich sind die Exponate viel zu lichtempfindlich und zu schade für unbedarfte Besucherpfoten. Das sprach lange und heftig gegen die Museums-Idee. Deshalb verschwinden die Originale in Schreibpulten und Schubladen und hinter Klappaltären. Sie werden gezeigt und geschützt. Auch das eine romantische Idee, Synthesen für das eigentlich Unvereinbare zu finden. Die Ausstellung braucht deshalb kongeniale Spuren, die den Räumen Themen und Gestalt geben, Augenfutter und Klang. Die Szenographie schickt die Be-Sucher auf einen Parcours, zu suchen und zu finden. Da macht Anspruch plötzlich Spaß. Die Gäste werden für voll genommen. Keine gönnerhafte Niederschwelligkeit trübt die Entdeckerlust.

Ein Beispiel dafür sind vielleicht die drei Nachtigallen-Eier am Fuße der so langen wie hohen Himmelstreppe, die Heinrich Heines Gedicht ‚Im Anfang war die Nachtigall‘ als Sidekick ins Spiel bringen. Ein Musikautomat am Treppenende spielt das Tirili dieses Singvogels ab. Besucher, die das nicht mitkriegen, fehlt nicht wirklich etwas. Andere freuen sich, die Nuss geknackt zu haben. Solch rätselhafte Objekte bringen die Besucher miteinander ins Tuscheln, sie beteiligen sich wechselseitig an der Entschlüsselung des Erlebten. Das Gemurmel rinnt auf einem fröhlichen Geräuschpegel durch die Räume. Auf dem Spielerischen des Erkennens liegt der Akzent, nicht beim Zeigefinger von Besserwissern.

Der Reihe nach. Fangen wir draußen an: die Fassade hat sich Frankfurts Baumeister Christoph Mäckler ausgedacht, dessen Credo das Kontext bezogene Bauen ist. Neben das Goethehaus setzt er den Museumsneubau auf das Grundstück des abgerissenen Rasterfassaden-Baus vom Börsenverein des deutschen Buchhandels. Hier musste Kontext überhaupt erst wiederhergestellt werden. Mäckler bildet drei Fassaden aus, die sich in den Proportionen und der Farbigkeit am benachbarten Goethehaus orientieren. Bis auf einzelne Fenster und Erker bleibt die Fassade blind. Dahinter verbirgt sich der Treppenaufstieg zu den drei Etagen der Ausstellung. Von außen rätselhaft, erst auf den zweiten Blick gerade noch schön, schaut es historisch gewachsen und weitergebaut aus und nicht aus einem Guss geplant und frisch errichtet. ____________________________________________________________________________________________________________________________

Von innen erschließt es sich spontan und auf den ersten Blick. Vom Treppenhaus zweigen drei Ausstellungsebenen ab. Das Treppenhaus bildet das Rückgrat. Die Fenster-Augen sind mit Botschaften versehen und lenken die Blicke, die innen und außen in Beziehung zueinander bringen. Sie sind als Sitznischen selbst architektonische Zitate und der Erker mit seinem blau-bunten Glas verzaubert die Lichtstimmung, taucht die Besucher – auf die Suche nach der Wunderblume und des Knaben Wunderhorn – bei Ihrem Aufstieg in blaues Grottenlicht ein.

Der Museumseingang ist nicht tempelhaft pompös, sondern hat etwas von der bodenständigen Selbstverständlichkeit eines Bürgerhauses. Drinnen stellt sich gleich wieder das Gefühl ein, in einem neuen Draußen zu sein. Das Verschachtelte ist das wahrhaft Städtische und Überraschende. Man blickt durch eine bodentiefe Panoramascheibe – ganz unerwartet inmitten der Frankfurter City – in einen Garten mit Laubengang und Brünnlein, Moosen, Farnen, Steinen und Pflanzen. Alles will hier etwas bedeuten und die Gäste verweilen einen berührenden Augenblick. Eine langgestreckte Steinbank lädt dazu ein. Für die nachrückenden Besucher heben sich die Sitzenden wie Schattenrisse gegen das Tageslicht ab. Die Hinzugekommenen schauen über die Schultern dieser Rückenfiguren wie in die Erhabenheits-Gemälde von Caspar David Friedrich. Auch das ein romantisches Motiv. Neudeutsch: die immersive, ins Bild hineinziehende Wirkung, die so treffsicher das Gemüt berührt.

Die Eintrittskarten löst man vor Bücherregalen, die prall überladen bis zur Decke reichen. Das Foyer hat einen Innenhofbelag aus plan abgeschliffenen Ziegeln. Man ist so drinnen wie draußen und nimmt zu dem kippeligen Thema des Hauses subtil Kontakt auf. Die Romantik ist heimelig und unheimlich zugleich. Romantikern geht es frei nach Novalis um Verfremdung des Bekannten. Man soll verunsichert mit neuen Augen sehen lernen.

__________________________________________________________________________________________________________________________

Im ersten Stock beginnt die Schau mit der Goethe-Galerie, einer Sammlung von Personen und Motiven zu seiner Biographie und den Grundmotiven seiner Literatur. Mit Werther hat er mit der selbstzerstörerischen Liebessehnsucht einen Bestseller gelandet, mit Faust das Drama um den Preis der Neugier, des Drängens und Forschens erzählt und mit Italien der Sehnsucht einen Ort in der Diesseitswelt verschafft, voller Ruinen und Fragmente.

Spektakulär das ‚Nachtmahr‘-Gemälde von Johann Heinrich Füssli und das ikonische Tischbein-Motiv ‚Goethe in der Campagna‘. Die Tag- und Nachtseiten des neuen bürgerlichen Subjektes stellen sie dar. Goethe stößt die Tür zur Welt der Empfindsamkeit des Einzelnen auf. Das Selbst und das Ich werden zu einer Aufgabe, wenn die Ordnung der starren Konventionen in der Französischen Revolution einstürzt und plötzlich das Leben zu einem Roadmovie wird voller Bewährungen und Wegscheiden, Verhängnissen und Gefahren, arkanischen Landschaften und Höllenschluchten. Eine Bildungsgeschichte oder flapsig ausgedrückt: Das Leben ist eine Baustelle. Die Galerie von Portraits zeigt, wie sich das Eigensinnige allmählich herausschält aus den verpuderten Perückenbildern der Zeit- und BettgenossInnen, sich standesgemäße Vertragsehen in Liebesversprechen auflösen und statt Blutsbindungen Wahlverwandtschaften von Gleichgesinnten gestiftet werden.

Von Anfang an sind die Frauen involviert als gleichberechtigte und gebildete Briefpartnerinnen, deren Worte erlösen und zerstören können. Für die bürgerlichen Subjekte öffneten sich die Fenster in eine wunderbare, weite Welt der Möglichkeiten. Der Brief konnte zum Medium werden, die Post übermittelte die Botschaften zuverlässig. In einem Land ohne echtes Zentrum knüpften sich Netzwerke zwischen den Gleichgestimmten. Posthorn-Signale, die Klingeltöne der Romantik, kündigen die Briefbotschaften gegen die provinzielle Langeweile an. Goethe schmiedet die Plots, die seine romantisierenden Zeitgenossen in ihren Stories ausphantasieren und auf Gratwanderungen zwischen Himmel hochjauzend und zu Tode betrübt schicken. Die Melancholie verzagt vor der Realität. Umso heftiger sprudeln Quellen für große Kunst.

Im Zweiten Stock geht’s dann zur Sache. Ein Spiegelkabinett gibt den Besuchern die Frage auf, was denn nun romantisch sei. Novalis bringt das Programm auf den Punkt: Romantisieren sei das Wiederverzaubern des banalen Alltags, eine Verfremdung der Umstände, um sie mit neuen Augen zu sehen, zu forschen und zu lernen in einen offenen Horizont hinein. So offen, dass jeder das Zeug zum Künstler habe und Großes schaffen könne. Die Spuren der Romantik führen direkt zu Joseph Beuys und auch zu Bertolt Brecht und seiner Verfremdungs-Pädagogik. Romantik ist beides, eine Epoche in der Literaturgeschichte und eine ästhetische Haltung im Umgang mit der Wirklichkeit. Romantik ist kein Ding, sondern eine Handlung. Das Museum erzählt diese Kulturgeschichte nicht der Reihe nach – die es nicht gibt – sondern in Episoden und Kabinetten, die Lichtwellen ins Romantische schicken, es zum Schwingen und Schweben bringen. Die Räume greifen über Eck ineinander. Die Besucher finden selbst ihren Weg in diesen schrägen und gekippten Ebenen, über Podeste und in Nischen, werden hinter Tannen geführt, animiert oder verblüfft.

‚Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg‘, heißt es bei Novalis. Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenröder unternehmen 1794 von Göttingen aus ihre folgenreiche Harz-Reise auf der Suche nach ‚Herzergießungen‘. Sie suchen einsame Plätze, die sich romantisch aufladen lassen. Die Natur, ein Erweckungserlebnis und Schule der Einbildungskraft, etabliert sich in der ‚Waldeinsamkeit‘ als Topos der Romantik. Die Erhabenheit der Natur speist sich aus dem Kippmoment des Heimlichen ins Unheimliche. Zwischen Traum und Trauma, zwischen der Realität und dem Ideal baut sich eine Kluft auf, die nur die Dichter mit Poesie und Wortschöpfungen überbrücken mögen. Eselsbrücken oder Klippen für Genies.

Der Mensch will nicht allein bleiben. Poesie braucht LeserInnen, mit denen sich Empfindungen einvernehmlich teilen lassen. Romantik ist Rezeptionsästhetik, Sharing Culture. Die Leser bestätigen wie Versuchspersonen im Experiment die Wirkungen der neuen Reime und Melodien. Chöre fördern das gemeinschaftliche Erleben. Zeitschriften wie das Athenaeum der Schlegel-Brüder singen das hohe Lied dieser Sympoesie, der Suche nach der Weltformel und im Einvernehmen mit den Bewegungsgesetzen des Kosmos.

Von der Rheinreise, die die Freunde Achim von Armin und Clemens Brentano 1802 unternehmen, bringen sie die ‚Sehnsucht‘ mit. Heinrich Heine wird später in seiner Loreley dichten: ‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, warum ich so traurig bin..‘ Das linke Rheinufer gehört zu Frankreich, das Rheintal selbst liegt in Trümmern, die die Pfälzischen Erbfolgekriege (1688-1697) als Spuren der Zerstörung hinterlassen haben. Die Ruinen und Fragmente sind Zeugen des Vergangenen. Auch hier mischt sich die Sehnsucht mit der Suche nach der Wunderblume und den Verschmelzungswünschen. Mit Karoline von Günderode gibt es das erste weibliche Opfer zu beklagen. Sie will alles, was auch die Männer wollen, sie scheitert an ihren enttäuschten Ambitionen. Die Verhältnisse sind noch längst nicht so. Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse noch lange nicht überall hin.

Die Ausstellung handelt die Rheinreise als ‚Graphic Novel‘ oder Comic ab und die intensive Reisetätigkeit der Romantiker zeigt ein Bildschirmtisch (Meso), auf dem die Wege und Stationen abgerufen werden können. Das Bewegungsprofil der Protagonisten wird sichtbar: Wer mit wem und wo sich befruchtete, abplagte oder verzweifelte. Deutschland selbst ist noch reine Fiktion, steckt politisch als Puffer oder gar europäischer Kriegsschauplatz zwischen den anderen Nationen fest. Es ist ein bunter Haufen von Kleinststaaten ohne echte Hauptstadt und je zersplitterter umso öder die Verhältnisse umso entrückender die Anrufungen des Weltgeistes, dass er ein Erbarmen habe. Die Neigung der Deutschen, die Welt durch reines Erkennen verbessern zu wollen, korrespondiert mit einem Ungeschick, die nächstliegenden Verhältnisse praktisch zu ordnen. Andere sind radikal oder pragmatisch, oder beides. Das Romantische ist eher eine Lebensform des Dazwischen, sich darin einzurichten und möglichst wenig zu verzweifeln.

Die Ausstellung hat der Versuchung widerstanden, es beim Blick auf den süffigen Klatsch des Literatenlebens zu belassen, in dem fabelhafte Details mehr zählen als profane Fakten. Von dem Naturforscher Faust herkommend enden die großen Fragen nicht einfach beim lieben Gott, sondern greifen weiter aus, fragen, was die Welt im Innersten zusammenhält, nach Ursprung, Vergänglichkeit und kosmischer Unendlichkeit. Autoritäten können sich da nur schwer auf ihren Thronen ausruhen, die himmlischen wie die irdischen. Novalis fragt nach den Qualifikationen des Königs und Bettina von Armin und ihre Töchter stellen den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. auf die Probe.

In der Romantik emanzipiert sich die Naturforschung von der Theologie, erhebt das Auge und das Experiment zum Richter und die Poesie zur vermittelnden Kraft. Der Maler Philipp Otto Runge übersetzt Goethes Farbkreis ins Dreidimensionale und konzipiert eine Farbkugel, die einem Globus gleicht und ganzheitlich alles in Eins bringen will: Harmonien und Disharmonien der Farben sollen sichtbar werden ebenso die Temperamente des menschlichen Seelenlebens. Runge probiert sich als ein Modellierer, der mit seinem Globus das Streben der Maler, Musiker und Poeten quasi wissenschaftsbasiert anleiten könnte. Der Globus ist seinerzeit so faszinierend wie heute die Reißverschlussketten des Erbgutes.

Dabei rückt schnell das Licht ins Zentrum, auf das die Goetheschen Augenmenschen angewiesen sind. Johann Wilhelm Ritter entdeckt die ultraviolette Strahlung im Farbspektrum des Lichtes und experimentiert mit chemisch-elektrischen Energien. Als Galvanist baut er die Polaritäten Plus und Minus zu Grundfiguren der romantischen Lebensphilosophie aus, zwischen denen Entwicklungen und Beziehungsspiel Spannung aufbauen. Romantik ist der Wissenschaft und der Mathematik nicht entgegengesetzt. An diesem Vorurteil kratzt die Ausstellung, das Romantische bildet selbst ein Fluidum zwischen dem Theologischen und dem Naturforschenden, die sich gerade erst zu scheiden beginnen. Selbst Darwin, der Erfinder der Evolutionstheorie, war ausgebildeter Theologe und hat aus gutem Grunde lange gezögert, seine Einsichten zu veröffentlichen.

Auch die Sprache selbst wird erforscht und eine Werkzeugkunde der Poeten. Die Grimms aus dem hessischen Kassel sind dabei, die in ihren Wörterbüchern jedes Wort aufspießen und taxonomisch behandeln. Die Struktur der Sprache, die kompositorische Dimension des Deutschen, kann so herrliche Wortungetüme bauen wie die ‚Waldeinsamkeit‘, die Geistiges und Gegenständliches frei kombiniert oder wenn das Kompositum ‚Taugenichts‘ ganze Dramen in ein einziges Wort bringen kann. Die Poeten nutzen diese Eigenschaften, um ihre Wörterseen über die Ufer treten zu lassen. In der Ausstellung entstehen Begriff-Clouds, die den romantischen Wortschatz sich ins Unendliche auftürmen lassen. Jakob Grimm wird später im Paulskirchen-Parlament fordern, dass die Freiheit zum ersten Paragraphen werden soll. Es ist vor allem die Freiheit, sich ausdrücken zu dürfen.

Inwieweit Worte Fakten schaffen wollen und vielleicht können, ahnen wir nicht erst seit dem Gendern. Die Ausstellung zeigt es an den Schlegels und ihrer WG in Jena, in der es wild zugeht nicht nur zwischen den Geschlechtern sondern auch in den Beziehungskisten. Welches Kind von wem, wer noch mit wem verheiratet aber mit wem zusammenlebend, es ist eine Geschichte für SpezialistInnen, die uns beim anstehenden Schlegel-Jubiläum auf den neuesten Stand der Recherche bringen werden. Entscheidend ist das lockere Ich, das sich die Verhältnisse schafft, selbst entscheidet und aussucht und nicht mehr genommen und gesteckt wird. Es geht zu wie bei den 68ern, das Private ist politisch, und das Politische mal so, mal so. Die Wahlverwandtschaften bleiben nicht dauerhaft stabil. Auch daran hat sich nichts geändert. Aber sie lösen Fixierungen und verflüssigen die Verhältnisse. Stefan Matlik, einer der führenden Erklärvideo-Erfinder, hat es als köstliches Knusperhäuschen-Drama in die Ausstellung gebracht.

In Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, sammelten beispielsweise die Grimms dem enzyklopädischen Geist der Franzosen folgend Märchen und Lieder aus dem Volk und bedienten damit auch einen rasant wachsenden Markt für Druckschriften und zunehmend auch für Illustrationen, die der Phantasie auf die Sprünge helfen. Die Erzählungen wurden nicht nur gesammelt sondern auch durchkomponiert. Dabei entstanden Hausschätze bürgerlicher Selbstvergewisserung und Plots, die bis heute dabei helfen, Erfahrungen in den Familien weiterzugeben über Geschlechterverhältnisse, Loyalitäten, die Liebe und das Erben, die Gunst und die Rache, die Ehrlichkeit, Vertrauen und Zuverlässigkeit.

Kunstmärchen-Erfinder wie E.T.A. Hoffmann nutzten die irreale Märchenform, um sich satirisch über die Verhältnisse und ihre Potentaten lustig zu machen. Sie schrieben Bestseller und schufen ein Repertoire, das bis heute aktiv ist. In dieser Zeit der Laterna Magica, der Balladen und Bänkelsänger, der Sagenwelten und Heldenepen entwickelten sich populäre Mischmedien, die die Wagnerschen Ideen vom synergetischen Gesamtkunstwerk vorbereiteten und auch eine Spur zum Kino legten. Parallel zur Literatur bediente auch die Musik das populäre Interesse an Traumwelten jenseits des tristen Alltags. Wünschelruten-Gänger wie Eichendorff oder Lieder-Macher wie Schubert und Schumann entwickelten diese Pop-Qualitäten der Romantik. Und Beethovens ‚Freude, schöner Götterfunke‘ setzt bis heute paneuropäische Begeisterungsschübe frei nach mehr Jenseits im Diesseits. In der Ausstellung gibt es zahlreiche Hörstationen und Playlists, die die Romantik in ihren schmelzenden und schwelgenden Multichannel-Qualitäten hör- und nachempfindbar machen.

Welche Taten folgten aus der romantischen Grundstimmung? Die Ruine des Kölner Domes wieder in eine Baustelle zu verwandeln, hat auch mit Goethe zu tun und seinem französischen Pendant Victor Hugo. Beide sahen in der gotischen Kathedrale das Bauwerk ihrer Kulturen. Die Romantiker bedienten diesen Wettbewerb zwischen Frankreich und dem Geist der Gotik. Die Suche nach den alten Bauplänen für die beiden Türme des Kölner Domes wurde forciert, schließlich im Darmstädtischen auf dem Dachboden eines Gasthofes gefunden. Zwischenzeitlich hatten französische Truppen den Hohen Dom zu Köln als Pferdestall genutzt und die Kirchenschätze waren im Sperrmüll gelandet. Der Weiterbau des Kölner Domes und seine Vollendung als nationales Symbol war mehr ein Projekt der Romantik als ein Herzenswunsch des Katholizismus. Das Pilgerziel: der Schrein der Heiligen Drei Könige stand ohnehin sicher im original-gotischen Domchor, sorgte für nie abreißende Pilgerströme – das war gut so und reichte den pragmatischen, dem Irdischen zugeneigten Kölnern.

Die Begeisterungsfähigkeit der Romantiker wanderte auf der Suche nach Resonanz peu à peu in die nationale Richtung. An individualistischen Selbstermächtigungen und Berauschungen scheiterten viele wie später die Blumenkinder. Aber verbunden mit einer staatstragenden Idee winkten Ruhm und Ehre und Einkommensmöglichkeiten. Romantiker erwiesen sich als Okkasionalisten wie die meisten freischwebenden Intellektuellen, deren Betätigungsfeld auch erst mit der Romantik im Entstehen begriffen war.

Es passt zur Dialektik der Entwicklungen, dass das Abschütteln von Fesseln und Beklemmungen leicht ins Gegenteil umschlagen kann, wenn das Sehnen zur Sucht nach Unbedingtheit wird oder die Liebe in Hass umschlägt. Heinrich von Kleist ‚Germania an ihre Kinder‘ ist ein Beispiel in der Ausstellung. Ihm ist die Radikalisierung nicht gut bekommen. In seinem ‚Michael Kohlhaas‘ erzählt er selbst eine Eskalationsgeschichte, in der der Ruf nach Gerechtigkeit in Raserei endet. Bei der Roten Armee Fraktion wie aktuell bei den Querdenkern lässt sich diese Dynamik beobachten, wenn die Balancen verloren gehen und das Engagement in eine toxische Steigerungs-Spirale gerät.

Auf Romantiker ist eben kein Verlass. Die Freiheit gilt gleichermaßen für das Wort wie die Liebe wie für den Hass, der mutigen Befreiung wie der freiwilligen Unterordnung, der Revolte wie der Restauration. Romantik öffnet die Pandora-Büchse der Gefühlswelten, die nach Ausdruck und Anerkennung streben, aber auch schnell ins Beleidigtsein kippen können. Werden Kunst und Leben ernsthaft über einen Kamm geschoren, wird es eng und die Romantik frisst ihre Kinder. Vielleicht hatte Goethe diesem Balanceverlust vor Augen als er das Kranke an der Romantik fassen wollte. In seinem Reineke Fuchs brechen Fuchs und Bär gemeinsam in die Speisekammer ein und schlagen sich die Bäuche voll. Zwischendurch prüft der Fuchs im Unterschied zum gierigen Bären, ob er noch durch das Fluchtloch passt.

Die Geschichte der Selbstzerstörung reicht vom Politischen auch bis in die Liebe wie sie Ludwig Tieck ausschmückt. In ihrer Unbedingtheit rechtfertigt sie jede Regelverletzung der gesellschaftlichen Konvention. Zur Not bleibt das Dachbodenidyll als Rückzugsort der Liebenden. Die Treppe wird verheizt und die Selbstisolation auf die Spitze getrieben. Die Dachbodenstiege, die ohne Bodenkontakt in der Luft hängt, ist eine der letzten Inszenierungen, mit der das Museum seine Besucher in die Gegenwart entlässt.

Die Romantik als Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Goethes zu erzählen, tut beiden gut: Goethe und den eigensinnigen Nachwachsenden. Goethe-Verehrung kann wie die Sonne blenden und blind machen. Die Ausstellung hält sich strikt an Goethes Forderung nach ‚Mehr Licht!‘. Und das Museum schafft mit dem Mehr Licht! jetzt mehr Schatten. Damit es Goethe nicht so ergeht wie dem Peter Schlemihl von Chamisso, der seinen Schatten verlor.

Ein großartiges Reflektorium ist da entstanden für den Meister aus Frankfurt.

Das Museum endet mit Bettina von Arnim, die die Korrespondenzen der Romantiker zusammengehalten hat. Das Museum zeigt eine Epoche der Literaturgeschichte, und nicht die Wirkungsgeschichte einer Haltung und Einstellung bis in die Gegenwart. Das würde die aktuellen Möglichkeiten überreizen. Wir könnten sie mitdenken: Die Dialektik der Romantik-Aufklärung handelt davon, wie es oft die höchsten und besten Gefühle sind, die von skrupellosen Taugenichtsen zu mörderischen Programmen der eigenen Überlegenheit remixed wurden.

Jetzt ist erstmal das Basislager geschaffen für Bergtouren in die Gebirge der europäischen Ideengeschichte. Ein Basislager, zu dem das Humboldt-Forum in Berlin so gar nicht geworden ist. Vielleicht weil es nicht vom Eigenen sondern nur vom Fremden sprechen möchte. Aber noch ist nicht aller Tage Abend.

Von Helmut Maternus Bien
Fotos: Angelika Kroll-Marth